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von Leonard Peters

 

 Er blickte jeden Tag auf den See. An launigen Herbstnachmittagen fragte er sich, ob dieser tatsächlich

derselbe war wie am Morgen. An langen Sommertagen wirkte der See wie eine Kopie vom Vortag. Wenn er dann in sein Atelier ging, um ihn zu malen, spielten diese Gedanken keine Rolle mehr. Der See, den er mitnahm, war immer ein völlig anderer. Mochten seine Landschaften und abstrakten Darstellungen von Personen auch andere sein, sie waren keine Fremden. Der Rückzug ins Atelier geschah nicht aus Realitätsferne. Doch auch Jahrzehnte nach seinem Tod wirkten seine Arbeiten auf viele Betrachter wie niedliche, realitätsferne Spielereien, was einen Teil ihres kommerziellen Erfolgs und ihrer Verbreitung ausmachte. Wie verhält er sich, der ein Bild seiner Welt in Farben, Linien und Symbolen entwirft, wenn diese Welt zerbricht? „Er geht ins Atelier“, sagte er und schloss die Tür. Hatte er die Zeitungen auf dem Boden des Zimmers gelesen? Ein neuer Mann brüllte ein neues Weltbild in die Mikrofone. Er schaltete das Radio aus. „Das ist ein Rahmen aus Beton um meinen See.“ Hielt er sich fern? Als er starb, war Krieg.

 

Der einzelne Mensch, die Vielen, die Anderen, der Teil, das Ganze. Wo endet ein Individuum?

Er erkannte Grenzen nicht an. „Eine Grenze aus Stein oder im Kopf ist entweder ein Hindernis, das wir überwinden müssen, oder sie ist selbst eine Aufforderung, ein Denkanstoß, uns zu bewegen.“

 

Auf einer Arbeitsreise saß er im Zugabteil einem alten Mann mit verschränkten Armen gegenüber. Als er ihn betrachtete, konnte er nicht ausmachen, ob der Mann schlief, vor sich hindämmerte oder aus dem Fenster blickte. Durch die Haltung seines Oberkörpers schien der Mann sich selbst zu tragen, fast so, als würde es keinen Unterschied machen, wenn die Sitzbank unter ihm weggezogen würde. „Wie seine eigene Statue“, dachte der Maler. Er schloss die Augen. Abteil und Wagon lösten sich auf. Metall, Holz, Glas, Rauch, Gesprächsfetzen. Alles trieb nach allen Seiten. Das einzige unveränderliche Element war der alte Herr, dessen verschränkte Arme wie eine Weigerung wirkten. Egal, wohin dieser Zug den alten Mann bringen würde, die Reise würde ihn nicht verändern.

Dieser Gedanke machte den Maler traurig.

„Ich kann nicht auf einen Punkt hin leben, an dem alles sich verfestigt hat. Mein See mag sich für den Betrachter kaum verändern. Doch für das Auge unsichtbare Kanäle und Rinnsale verbinden ihn mit den Wasserläufen der Region. Diese erreichen irgendwann das offene Meer. Auch in der abgelegensten Steinwüste gibt es irgendwo in der Tiefe einen Bach.“

 

 

Es blickte jeden Tag auf den See. Eigentlich war der See das künstliche, verbreiterte Ende eines

Flusses, dessen Reste sich weiter südlich zwischen Steinfassaden in den Hafen verloren.

Die ihn umgebende Stadt hatte die merkwürdige Eigenschaft, trotz des Zustroms und Abflusses von Menschen und Waren wie ein vor langer Zeit vollendetes Kunstwerk zu wirken.

Es hatte ein ruhiges Leben, ebenso wie seine Besitzerin. In den ersten Jahren hatte sie sich an

Nachmittagen häufiger einen Stuhl herangezogen und es still betrachtet. Anschließend hatte sie jedes Mal die Balkontür geöffnet und sich an die Brüstung gelehnt. Sie hatte auf die Straße und auf die Spaziergänger am Seeufer geblickt. Wenn sie wieder ins Zimmer kam, die Tür schloss und den Stuhl zurechtrückte, wirkte sie erschöpft. Als würde sie das Betrachten erhebliche Kraft kosten. Diese Nachmittage waren über die Jahre seltener geworden. Es war nun häufiger allein.

 

An diesem Morgen kamen zwei Personen mit weißen Handschuhen in sein Zimmer.

Sie verschoben zunächst einige Möbel und nahmen es dann von der Wand. Sie schlossen es in einen starren, glatten Behälter ein. In dessen Innern lag es unter geschichtetem Material, das leichter und feiner wurde, je näher es seiner Oberfläche war. Dann wartete es in Dunkelheit und Stille. Der Behälter wurde geöffnet. Ein anderes Zimmer, kein Balkon, kein See. Weiße Stoffhände fassten es und trugen es durch ein großes, helles Gebäude. An einer blassgrünen Wand in einem hohen Raum wurde es aufgehängt. Es hatte diese Reise, die größtenteils aus Warten in Dunkelheit bestand, schon etliche Male getan. Nun blickte es auf eine Landschaft aus Linien, Kreisen und Punkten. Daneben eine Frau im weiten Kleid auf einem Dampfschiff. Eine Gruppe Musiker in einem Straßenlokal bei Nacht.

Das war die einzige nennenswerte Variable dieser Reisen: Der Blick war jedes Mal ein anderer.

Alles weitere war gewohnte Routine. Die Türen öffneten sich, Menschen strömten in den Raum und verteilten sich in ihm. Sie durchzogen ihn auf unterschiedlichen Bahnen. Sie verlangsamten ihren Schritt, hielten an, betrachteten die Wände, einander, gingen weiter. Kamen sie in Gruppen, sprachen sie meistens und zeigten dabei auf das, was geduldig und still vor ihnen hing. Auf die Landschaft, die Frau im weiten Kleid, die Musiker, und auf es. Ihre Worte wiederholten sich, die meisten davon Adjektive und Adverbien.

 

Es wurde eher bezeichnet als betrachtet. Niemand zog sich einen Stuhl heran, um es länger

anzuschauen. Die Besucher dieses Ortes schienen sich einander verpflichtet zu fühlen. Niemand, der in einer Gruppe kam, wagte es, im Gespräch mit den Nebenstehenden eine längere Pause entstehen zu lassen.

Nicht selten erntete es für sein Dasein, oder Da-hängen, verständnislose Blicke. Mitunter schienen die, welche ihm Namen gaben, sich durch seine Anwesenheit gestört zu fühlen. Doch meistens sagten die Menschen kurz „schön“, nickten einander zu und gingen weiter.

 

Eine Gruppe verharrte länger als die anderen vor ihm. Die Gruppenmitglieder unterhielten sich angeregt, wobei sie wiederholt mit ihren Armen und Händen auf es zeigten und nach neuen Adjektiven suchten, die noch nicht gefallen waren. Ein Mann näherte sich der Gruppe. In einer Hand trug er - es. Und gleich mehrere von ihm. Eine Handvoll von ihm, vielfach kleiner und auf Papierkarten abgebildet, deren eine Seite es vollständig ausfüllte. Es wurde an die Mitglieder der Gruppe verteilt, welche sich in Richtung der Türen entfernten.

 

Nach diesen Aufenthalten in elektrischem Licht war das Warten in Dunkelheit immer von längerer Dauer als auf der Hinreise. Ein weiterer Ort, er befand sich zwischen dem hellen, hohen Raum mit Landschaft, Frau im Kleid und Musikern, und dem Zimmer am See. Ein Zwischenraum, in dem sich Reisewege kreuzten. Hin und wieder wurde eine Tür geöffnet und etwas in diesem Warteraum wurde verändert. Dann trat erneut Stille ein.

Beinahe, jedenfalls. Irgendwo in der Erde murmelte ein Bach.